Diego Camuñas beherrscht die antike Kampfkunst der Mallorquiner perfekt
Eine flüssige Armbewegung, ein Peitschenknall – und dann fliegt der Stein mit 225 Kilometern pro Stunde durch die Luft. Die balearische Schleuder war einst eine tödliche Waffe, auch wenn sie so harmlos aussieht wie ein Kinderspielzeug. Diego Camuñas (76) lässt nach dem präzisen Wurf die unscheinbare Schlinge aus Naturfasern lässig an seinem Finger pendeln. Er beherrscht die „fona“ oder „honda“, wie sie genannt wird, im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Handgelenk. Auf den Zentimeter genau kann er einschätzen, wo ein Geschoss aufprallen wird. Sein Trainingsrevier ist der Hof hinter dem Haus. An der einen Mauer hat er mit Farbe eine Zielscheibe aufgemalt. Dort wird mit Tennisbällen geübt. Die Hauswand gegenüber ist mit Einschusslöchern gespickt. „So sieht es aus, wenn die Steine mit Wucht einschlagen“, sagt er und freut sich über die beeindruckten Gesichter seiner Besucher.
Die Nachbarn sind ihm dankbar – Im Hof seines Hauses in Campanet trainiert Diego mit Tennisbällen statt Steinen
Hunderte Schlingen haben Diegos Hände in Laufe seines Leben schon geflochten. Das Geschick dazu hat er sich bei seinem Großvater abgeschaut, der Gras und Pflanzenfasern zwirbelte, um alles herzustellen, was in dem mittellosen Haushalt benötigt wurde: Schutzhüllen für Flaschen, Teppiche, Körbe, Schuhe. Mit neun Jahren entdeckte Diego die Nützlichkeit dieses Handwerks für sich selbst. Als Hirtenjunge trug er zum Lebensunterhalt für die zwölfköpfige Familie bei. „Um 400 Ziegen im Zaum zu halten, damit sie nicht das Futter auf den Feldern der Nachbarn suchten, hab ich meine erste Schleuder gebaut“. Diego lässt seine fona wieder durch die Luft schnellen. Ein ohrenbetäubender Peitschenknall ertönt. „Damit konnte ich die Tiere disziplinieren. Bei diesem Ton kamen sie gleich zu mir zurück.
“ Für die renitenten Ausreißer, die trotzdem immer mal wieder aus der Herde ausbrachen, gab es dann eins hintendrauf. „Mit dem Stein aus der Schleuder hab ich ihnen einen Warnschuss auf den Hintern versetzt.“ Stolz erzählt er von seinen Treffern, aber den größten Fehlwurf von damals verschweigt er auch nicht. Als der ihm anvertraute Stier von Nachbars Mandelbaum fraß, setzte er seine Schleuder auf das Tier an – und schoss ihm ein Horn weg. „Das war ein Zuchtstier!“, erzählt Diego und seinem ehrfurchtsvollen Ton ist anzumerken, dass ihm nach über 65 Jahren der Ärger, den es dafür gab, noch immer in den Knochen sitzt.
Eine kleine, rundliche Frau betritt die Werkstatt und unterbricht lächelnd seinen Redeschwall. Ein Telefonanruf? Der kann warten. Diego ist gerade in seinem Element. Er legt den Arm um die Frau und schwelgt weiter in Erinnerungen: „Das ist Antonia. Als ich 1966 nach Campanet gekommen bin, hat sie mir sofort gefallen. Seitdem sind wir verheiratet.“ Antònia ist zwar weitaus ruhiger als ihr quirliger Diego, aber eine Leidenschaft teilen sie seit Jahrzehnten: Das Steinschleudern. „Ich hab es mal ausprobiert und es hat mir Spaß gemacht“, sagt sie bescheiden. Dass Antònia Reynés internationaler Champion im Frauenwettbewerb ist, muss Diego erst einwerfen. Sie lässt sich lange bitten, holt dann aber doch ihren Pokal, um ihn für ein Foto zu präsentieren.
Auch Antonia weiß die “fona” zu schwingen, sie ist sogar die Nr. 1 im Steinschleudern der Frauen
Ohne ihren Mann Diego gäbe es allerdings auf Mallorca heutzutage keine Pokale, keine Wettkämpfe und vielleicht sogar nicht einmal mehr das Wissen um diese uralte Tradition. Da musste erst der Junge aus Andalusien kommen, um die Jahrtausende alte Wurfkunst, nach deren Kämpfern die Inselgruppe benannt ist, den Fängen der Vergessenheit zu entreißen. Denn geboren und aufgewachsen ist Diego Camuñas Diez nicht auf den Balearen, sondern in Villanueva de la Concepción, einem kleinen Dorf bei Málaga. Seine liebgewordene Gewohnheit, mit der Steinschleuder zu üben, behielt der junge Mann allerdings auch in Mallorca bei. Als Zeitvertreib, wenn er sich von seiner Arbeit als Maurer in der Natur entspannen wollte. Dabei wurde er einmal von zwei Männern beobachtet, die ihn daraufhin ansprachen: „Im Nachbardorf wohnt einer, der auch sowas kann.“ Sie arrangierten ein Treffen, riefen einen Wettbewerb aus, zu dem sich tatsächlich noch fünf weitere Werfer einfanden – und aus einer kleinen Runde begeisterter foners wurde seit Ende der 1970er Jahren eine große sportliche Bewegung.
Fast jede Gemeinde hat inzwischen ihren eigenen Verein, und Turniere finden regelmäßig überall auf der Insel statt. Sieger wird nicht derjenige, der seine Steine so weit wie möglich schleudert, sondern der die Zielscheibe genau in der Mitte trifft. Die höchste Anerkennung wurde der wiederbelebten Tradition zuteil, als das Eröffnungsfeuer für die Universiade, die sportlichen Weltspiele der Studierenden, 1999 in Palma mit brennenden Steinen entzündet wurde. Vier foners, einer von jeder der Balearischen Inseln, schleuderten ihren Stein aus dem Stand 85 Meter hoch in die Feuerschale. Diego Camuñas traf gleich beim ersten Versuch. Die verrußte Schlinge und der mit brennbarem Material umwickelte Stein lagern heute in seiner „Pokal-Kammer“, in der alle seine Trophäen der letzten 40 Jahre versammelt sind.
Punktgenau auf 85 Meter Höhe, für Diego kein Problem. Davon künden auch seine vielen Pokale. Inzwischen ist Steinewerfen ein sehr beliebter Sport, sogar die Post widmete ihm eigene Briefmarken
Diego steht inzwischen nicht mehr als Teilnehmer in der Wettkampfarena. Als Zeugmeister ist er aber immernoch für die Herstellung und Reparatur der Wurfgeräte zuständig. Aus Gräsern, Hanf oder Fasern der Sisal-Agave fertigt er feste Schlingen mit bis zu fünf Strängen. „Die halten 10 Jahre“, versichert er. Auf die ungläubigen Blicke hin, wie um alles in der Welt aus einem fleischigen Agavenblatt der Werkstoff für die Schlingen kommen soll, macht sich Diego in seinem Hof sofort ans Werk. Er klopft das Blatt flach, bindet es auf ein Brett und „kämmt“ es mit einer Art Metallbürste, bis die Fasern freiliegen. „Jetzt noch trocknen und dann kann man sie verwenden. Früher wurden sogar Schiffstaue daraus gemacht.“
So ziemlich alles, was aus Naturfasern per Hand hergestellt werden kann, hat Diego in seiner Werkstatt versammelt. Eigentlich, sagt er, können alle Gräser und Gewächse dazu genutzt werden, die lange Blätter haben – ob Maisstroh, Hanf oder Halfagras, das praktischerweise gleich bei ihm im Hof wächst. Manche eignen sich besser für feste Gegenstände wie Körbe, aus anderen macht Diego Schuhe. Während er erzählt, greift er zu ein paar Fasern, zwirbelt die trockenen Gräser, flicht in regelmäßigen Abständen ein paar Querstreben ein und legt sich das Gerippe auf den Fuß. „Damit kann ich die Schuhgröße bestimmen. 17 Knoten ergeben Größe 42. Frauenschuhe messen vom Zeh bis zum Spann in der Regel 15-16 Knoten.“
Schuhe aus Stroh – das hatte der kleine Diego dank seines Großvaters einst den anderen Kindern im Dorf voraus. Als er sie endlich selbst fabrizieren konnte, machte er daraus kein Geschäft, sondern verschenkte die Schuhe an seine barfuß laufenden Freunde. All solche Erinnerungen an das einfache Leben auf dem Lande präsentiert Diego heute in seiner Werkstatt. Dort hat er ein kleines Museum der vergessenen Utensilien eingerichtet. Von der Hirtentasche bis hin zum Hahnenkampf-Teppich hängen, stehen und liegen hier die erstaunlichsten Objekte. Geschaffen allesamt durch die aussterbende Handwerkskunst von Meister Diego.
Sein Favorit jedoch ist und bleibt die fona. Er hält jetzt wieder seine Schlinge in der Hand, mit der er auf dem Trainingsgelände im Hof so eindrucksvoll sein Können unter Beweis gestellt hat. Für ihn hat es eine fast meditative Wirkung, das Geflecht zwischen seinen Fingern zu spüren. „Es gibt mir eine ungeheure Gelassenheit“, verrät er. Dann verabschiedet er sich – und lässt als letzten Gruß noch einmal seine fona knallen. Nur so, weil es ihm Spaß macht. Und weil er es kann.
- Verkauf von handgefertigten Schleudern direkt in der Werkstatt von Diego Camuñas in Campanet, Carrer Bernat Sales, 2; Tel. 971 51 65 65; Kosten: ab 15 Euro; geöffnet nach Vereinbarung
- Termine für Wettkämpfe auf der FB-Seite @federaciotirdefona
- Anleitung für eine Steinschleuder Marke Eigenbau und Infos zur Wurftechnik gibt es auf der Website www.tourism-mallorca.com/foners
- Historie: Schon vor mindestens 5.000 Jahren machten die Bewohner von Mallorca und den Nachbarinseln regen Gebrauch von der Kunst, runde Steine treffsicher und mit viel Wumms auf ein Ziel zu schleudern. Einerseits, um damit auf die Jagd zu gehen. Andererseits, um sich der Feinde zu entledigen, die immer wieder die Küsten ansteuerten. Diese besorgniserregende Fähigkeit sprach sich in der antiken Welt herum und so wurden die Els Foners Balears – die Steinschleuderer – gefragte Söldner, auch in der Römischen Armee. Dort kämpften sie jedoch nicht mit Steinen, sondern schossen mit der Schlinge spitze Bleigeschosse auf die Feinde ab. Den gefürchteten Kämpfern eilte ihr Ruf voraus. Ehrfurchtsvoll wurden die Inseln, von denen sie stammten, nach deren Kunst benannt: dem altgriechischen Wort „werfen“ (βάλλειν) entlehnt, hießen Mallorca, Menorca, Ibiza und Formentera von nun an Balearen.
- Gerücht: Man sagt, früher wurde den Kindern das Essen im Korb in die Bäume gehängt. Sie sollten es mit der Schleuder herunter schießen, um die Wurfkunst zu erlernen.
Alle Fotos: ©Marcos Gittis, Video: © Christiane Sternberg
Ersterscheinung des Textes in El Aviso 11/2018
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