Die Geomantin Silvia Reichert de Palacio
führt zu den Kraftorten Mallorcas
„Augen schließen und ruhig atmen.“ Leichter gesagt als getan mitten im Trubel der Hauptstadt. Autos hupen an der Via Roma, eilige Leute rennen uns in dem kleinen Park fast über den Haufen und im Kopf kreist der Auftrag, sich verdammt nochmal jetzt zu entspannen.
Aber dann gelingt es tatsächlich, ich komme zur Ruhe. Silvia Reichert de Palacio legt mir die Hand auf den Arm. „Bist du bereit?“ Ich nicke. Bedächtig gehe ich auf den Baum zu. Zunächst registriere ich seine gewaltige Krone, deren üppiges Blätterdach sich bis über die Straße wölbt. Dann kommen Details ins Blickfeld, mächtige Äste, ausladende Wurzeln. Oh, diese Wurzeln! Sie schlingen sich wie die Gliedmaßen eines riesigen, aber sanften Tieres über die Erde. Einem Impuls folgend streckt sich meine Hand danach aus. Raue, sonnenwarme Haut. Es ist ein Lebewesen, das sich streicheln lässt und dabei eine unglaubliche Gelassenheit ausströmt, die sich auf mich überträgt. Während ich mich dem Staunen über die Wirkung hingebe, den dieser Baum auf mich ausübt, sind tatsächlich alle Alltagsstörungen um mich herum verblasst. Ich bin ganz bei mir, in Zwiesprache mit einem Baum.
EL FICUS DE LA MISERICORDIA, 190 Jahre alter Gummibaum
im Centro Cultural La Misericordia, Eingang Via Roma,
Palma (Ende der Rambla)
„Die meisten Leute fühlen instinktiv, dass es ihnen irgendwo gut oder schlecht geht, bringen das aber nicht mit der Ausstrahlung des Ortes in Verbindung.“ Die Geomantin Silvia Reichert de Palacio sucht mit Wahrnehmungsmethoden wie Ruten oder Pendel gezielt nach solchen Stellen. Geomantie war früher eine Art des Hellsehens, inzwischen versteht man darunter das Erspüren positiver Energien in Räumen und Landschaften. Die kraftvolle Wirkung der Natur in ihrer Urform war den Menschen seit jeher bewusst und wurde von ihnen ganz selbstverständlich genutzt. Nur unsere hochentwickelte Spezies heute braucht Anleitung von einem Medium, um überhaupt wieder in Kontakt mit Mutter Erde treten zu können.
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MONESTIR DE MIRAMAR, ein von Menschen gestalteter Kraftort
Menschen können Kraftorte auch selbst gestalten – man muss nur wissen wie. Den Beweis tritt Silvia mit uns bei dem Besuch im Monestir de Miramar an. Es gilt als das älteste Gebäude der Insel, war einst Kloster und Schule für orientalische Sprachen, das 1276 auf Wunsch des Gelehrten Ramón Llull gegründet wurde. Doch wir konzentrieren uns auf die unscheinbaren Mäuerchen im Garten. Silvia beschreibt die Hauptachse des gepflasterten Weges als die Yang-Kräfte, die den Haupthimmelsrichtungen entsprechen. Geschnitten wird der Kreuzweg von vier Pfaden, die nicht von Mauern begrenzt werden und die Weichheit und Offenheit der Yin-Energie präsentieren. Hier zu versuchen, die Harmonie der Gestaltung zu erspüren, ist nicht schwer. Mit dem grandiosen Ausblick aufs Meer und der himmlischen Ruhe stellt sich eine meditative Stimmung ganz von selbst ein. Silvia hat auf dem Gelände noch einen anderen Beweis dafür entdeckt, dass die Erbauer das alte Harmonie-Prinzip des Feng Shui kannten und anwandten. Die steinerne Nische, aus der das Quellwasser in den dreieckigen Teich fließt, spiegelt sich im Wasser. Yin und Yang im Einklang.
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SA FORADADA, der Visions-Ort der Insel
Für unser nächstes Ziel reihen wir uns ein in eine Schlange von Touristen. Sa Foradada übt auch ohne Wissen um seine geheimen Kräfte eine ungeheure Anziehung aus. Aber was, wenn sich hinter der Öffnung im Felsen mehr verbirgt als eine schöne Aussicht? „Schon in den alten Kulturen der Welt waren Steinformationen mit Loch Visionsorte“, versichert die Geomantin, während wir uns wandernd dem Felsen nähern. „Dieses natürliche Phänomen soll helfen, dem Menschen Einsichten und Klarheit zu geben.“ Hierher kommt Silvia mit Menschen, die auf der Suche sind nach Entscheidungen und Lösungen, die nicht wissen, wie es weitergeht. Auch an dieser Stelle hilft eine Sensibilisierungsübung, die Kraft des Ortes zu nutzen. „Es geht darum, die Klarheit aus dem Blick zu verbannen, um sich der Vision zu nähern.“ Also die Augen bis auf einen Spalt schließen und durch die Wimpern gucken. Oder einfach geradeaus starren ohne zu blinzeln, bis Tränen den Blick verschleiern. Die 50-minütige Wanderung ist eine kleine Pilgerreise ins eigene Ich. Der Blick durch das Loch von Sa Foradada verleiht der Fantasie Flügel, beschwört Bilder herauf und gleicht so tatsächlich einer Vision.
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CUBER STAUSEE, zu den Wurzeln Mallorcas
Durch das Tal von Fornalutx zum Cúber-Stausee führt eine meditative Wanderung, die einen zu den eigenen Wurzeln führt. „Bei jedem Schritt spürt man die Verbundenheit mit dem Ursprung, denn hier liegen auch die Wurzeln Mallorcas.“ Die Pla de Cúber war schon seit Urzeiten besiedelt. Das bezeugen die prähistorischen Funde rund um die Höhle am Gebirgsbach Cúber und die Talayot-Siedlung von Almallutx. Wenn sich auf der Wanderung schließlich das schmale Tal öffnet und freie Sicht bietet auf den See, umrahmt vom Puig Major und den anderen höchsten Bergen Mallorcas, spürt man diese Freiheit und Offenheit auch bei sich selbst. Voraussetzung ist, man hält diesen Weg in innerer Einkehr aus. „Manchmal ist es schwierig mit einer Wandergruppe“, verrät Silvia. „Die Leute haben ständig das Bedürfnis zu reden. Dann fordere ich sie immer auf, jetzt mal einen Abschnitt schweigend zurückzulegen. Niemand findet zu sich selbst, wenn er sich über Arbeit oder Familie austauscht.“
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ZWILLINGSBERGE VON ALARO, das Hauptatmungsorgan von Mallorca
Am Ende des Tages wollen wir noch ein wenig kosmische Energie tanken. Am Fuße der Zwillingsberge Puig d’Alaró und Puig de s’Alcadena konzentrieren wir unsere Sinne mit entspannenden Atemübungen. Hier nämlich, sagt Silvia, stellt die Erde Kontakt zum Universum her. „Die beiden Berge sind die Hauptatmungsorgane von Mallorca. Der linke Berg atmet kosmische Energie ein, die Erde nimmt sie auf und atmet sie am rechten Berg wieder aus.“ Es ist der Abend eines langen Tages und durch die Atemübungen im Angesicht der Berge fühle ich tatsächlich, wie meine restlichen Kräfte noch einmal mobilisiert werden. Ob der Kosmos seine Finger da im Spiel hat? Ich weiß es nicht. Aber die Zwillingsberge sind selbst den Mallorquinern als magischer Ort bekannt. Schließlich spinnen laut Sage hier die Hexen in der Nacht zu San Juan am 24. Juni aus Fäden eine Brücke, um darauf zu tanzen. Kein Hexenwerk hingegen ist die Annahme, dass die Erde atmet und alles mit allem zusammenhängt. Schon Altmeister Goethe kam nach akribischen Messungen mit dem Barometer darauf, dass es so etwas wie die Atmung der Erde geben muss.
Und da Goethe immer das letzte Wort hat, überlasse ich es ihm auch hier: „Auf jenes Atmen der Erde weiß ich schon viel Himmlisches, beinahe alles zu beziehen; und wäre es auch nur zur Übung des Geistes, ein solcher Versuch würde immer viel Nutzen bringen.“
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Silvia Reichert de Palacio
… gehört zur ersten Generation der in Europa ausgebildeten Feng-Shui-Experten, Geomanten und Tiefenökologen. Ihre Ausbildung als Geomantin hat sie in den 1990er Jahren bei Professor Eike Hensch absolviert, der an der Uni in Hannover Architektur lehrte. Sie berät bei der Gestaltung von Gärten, Innenräumen und Architektur, bietet geführte meditative Wanderungen an und arbeitet als Coach für Privatpersonen.
Kontakt
+34 606 739 884
info@geocultura.com
www.geocultura.com
Buchtipp:
Silvia Reichert de Palacio „Kraftplätze im Garten“
Verlag Gräfe und Unzer, ISBN 978-3833821820
Alle Fotos: © Marcos Gittis
Ersterscheinung des Textes in El Aviso 6/2019
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