Die wunderbare Welt im Museum ArtArtà
Schaurige Dämonen hocken im roten Licht des flackernden Fegefeuers zusammen. Mit grässlich verzerrten Fratzen starren sie in die Dunkelheit, der Raum ist erfüllt von dem Gesang klagender Stimmen. Eiskalt läuft es einem da den Rücken hinunter! Allerdings nicht den beiden Mädchen, die an diesem Vormittag auf Entdeckungstour gehen im Märchenmuseum von Artà. Hannah (6) und Linn (11) gefällt die Schreckenskammer. Fasziniert betrachten sie die schaurige Szenerie. Warum auch nicht? Hier wird niemand gefressen. Die Hölle liegt ja nicht drei Klafter tief unter der Erde, sondern in Saal 3 der Ausstellung. „Vor allem kleinere Kinder haben meist noch gar keine Angst“, beruhigt Maria Isabel Sancho Orell oft überfürsorgliche Eltern, die ihre Kinder tröstend in den Arm nehmen, um sie vor den düsteren Gestalten zu beschützen. Die Inhaberin des historischen Hauses in Artà hat schon Hunderte Kinder erlebt, die den Rundgang durch das Haus der Rondalles, der mallorquinischen Märchen, mit offener Neugier und großer Begeisterung absolviert haben. Offenbar haben sie die stärkeren Nerven, wenn es um Fantasiegestalten geht. Sie selbst leben beim Spielen ja jeden Tag in von ihnen erschaffenen Welten, in denen sie Abenteuer bestehen und siegen – ganz wie die Helden in Märchen und Sagen.
Die Mallorquinische Hölle – in Saal 3
Pere Pujol gab den Volksmärchen ein Gesicht
Die liebevoll gestalteten Figuren wollen auch gar keinen Schrecken verbreiten, sondern uns aus der Realität entführen, mitten hinein in das Märchenreich Mallorcas. Lebensecht und doch eigenwillig überzeichnet, sind sie von einer ungeheuren Faszination. Glänzender Schmuck, schöne Kleider oder die Warze auf der Nase eines finsteren Gesellen vervollkommnen die Illusion, mitten in eine Geschichte geraten zu sein. Da, auf dem Besen der Hexe hocken Eule und Fledermaus! Harry-Potter-Fans haben ihre helle Freude an solchen Details.
Zu verdanken sind diese wunderbaren Gestalten dem Künstler Pere Ferrer Pujol (1934-2001) aus Artà, der sie aus Ton, Harz und Pappmaché erschuf. Seine Figuren sind inspiriert von der umfassenden Märchensammlung des Pfarrers Antoni Maria Alcover. Der reiste Ende des 19. Jahrhunderts durch die Dörfer der Insel, sammelte die Erzählungen, die seit Generationen mündlich überliefert wurden, und veröffentlichte mehr als 400 Märchen in 24 Bänden. Dem Talent von Pere Pujol ist es zu verdanken, dass 40 Jahre nach dem Tod des Sprachwissenschaftlers und Ethnologen viele der liebenswerten oder finsteren Charaktere unter seinen Händen Gestalt annahmen und zum Leben erweckt wurden.
In Mallorca sind die Feen alte, weise Frauen
Dass es in der Märchenwelt nicht gerade feinfühlig zugeht, kennt jeder zur Genüge aus den Grimm’schen Geschichten. Doch die Rondalles setzen mit dem ungewöhnlichen Figurenensemble noch eins drauf. Hexen, Dämonen und Riesen treiben ihr Unwesen auf der Insel. Deren gigantische Köpfe schauen auch gleich am Beginn der Ausstellung mit furchteinflößenden Grimassen auf die Gäste nieder. Kinder sind da wenig respektvoll, sie gucken den wüsten Gestalten lieber mal tief in die großen Nasenlöcher anstatt sich zu fürchten. Feen kommen in der mallorqinischen Märchenwelt nicht als zarte Flügelwesen, sondern als alte, weise Frauen daher. Dann gibt es da den Mann, der Kürbisse ausbrütet, Joan mit der langen Nase und einen Mohrenkönig, der eine dicke Lippe riskiert, um die schöne Catalina zu retten. Aber auch die Sonne und der Mond sind hier versammelt, die Schönheit der Welt und ein cleverer Kater. All diese Figuren von Pere Pujol haben in den Räumen des Märchenmuseums ein Heim gefunden. Vor jedem Raum sind auf Notenständern die Seiten der Märchen aufgeschlagen, die es darin zu bewundern gilt. Die Mutter von Hannah und Linn hat sich am Empfang eine Kladde mit der deutschen Übersetzung geben lassen und erzählt den Mädchen die Geschichten selbst.
Hannah und ihre große Schwester Linn sind von Mallorcas Märchenwelt begeistert
Ein Volkskundemuseum der besonderen Art
Die Figuren mögen ja künstlich sein, aber Kulisse und Requisiten, zwischen denen sie in Szene gesetzt wurden, sind ganz echt. So liegt der Kürbis ausbrütende Dummkopf im frisch bezogenen Bett, auf dem Nachtschrank ein Wecker und Porzellan-Nippes. Die Großmutter sitzt im Schaukelstuhl, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Die Frau mit dem Stern auf der Stirn schaut in den Spiegel der Frisiertoilette, die mit Marmorplatte und Porzellan-Wasserkanne ausgestattet ist. Im Badezimmer, das dem Arzt Guinyot und seiner Apotheke das passende Ambiente verleiht, hängt ein blütenweißes Handtuch neben dem Waschbecken. Die Räume des Hauses sind noch immer gespickt mit den Originalmöbeln der Familie von Maria Isabel Sancho.
Da hängen alte Leuchter, im Flur steht ein Grammophonschrank und weiter hinten zwei urgemütliche Sessel. Es kommt einem vor, als stünden die Figuren nur tagsüber still und würden nachts das Haus mit Leben füllen. Maria Isabel lacht. „Das wirkt tatsächlich so. Der Mann, der uns die Alarmanlage eingebaut hat, meinte auch: ‚Also ich würde hier nicht übernachten.‘ Ich sage Handwerkern eigentlich immer gleich, dass sie auf die menschlich wirkenden Figuren gefasst sein müssen. Trotzdem hat der Glaser den hinteren Raum ausgelassen, weil er den Mann im Bett nicht wecken wollte.“ Dieses authentische Bild des Hauses macht den Besuch vor allem für die erwachsenen Gäste so spannend. Hinzu kommt, dass im Erdgeschoss typische Handwerkskunst von den Balearen angeboten wird. Die Kombination aus verschiedenen Traditionen macht aus dem ArtArtà ein Volkskundemuseum der ganz besonderen Art.
Això era I no era… (Es war einmal)
Això era I no era … So beginnen die mallorquinischen Märchen. Und so beginnt auch die Geschichte des Hauses, das ihnen und den Figuren seit 2012 ein so liebevolles Zuhause gibt. Es war einmal der Urgroßvater von Maria Isabel Sancho Orell, ein Maurer, der das Haus in Artà im Jahre 1890 erbaute. Der blühende Patio geht auf die Großmutter, eine Korbflechterin, und die Mutter, eine Töpferin, zurück. In diesem Haus hat Maria Isabel gewohnt bis sie 20 Jahre alt war. „Mein Zimmer war dort, wo jetzt das Märchen vom König mit der dicken Lippe aufgebaut ist.“ Als ihr Vater starb, dann auch vor acht Jahren die Mutter, stand das Haus leer. „Meine Geschwister wollten es verkaufen. Es gab genügend Interessenten, die daraus am liebsten ein Restaurant gemacht hätten. Aber ich war entschlossen, unser Haus in der Familie zu halten.“ Von ihrer Idee, hier eine Märchenwelt zu erschaffen, war sogar die Stadtverwaltung begeistert, aber Geld für die Finanzierung gab es trotzdem nicht. Also nahm sie eine Hypothek auf das Haus auf, zahlte ihre Geschwister aus und machte sich daran, mit ihrem Mann zusammen ihren Traum umzusetzen. „Ich hätte mir das eigentlich nicht antun müssen, ich war ja angestellt im öffentlichen Dienst, arbeitete von 8-15 Uhr in der Kulturabteilung, war 50 Jahre alt und hätte mich zurücklehnen können. Ich wollte aber nicht, dass dieses Haus in andere Hände übergeht.“ Der Neffe des Künstlers Pere Ferrer Pujol überließ ihr die Figuren als Dauerleihgabe. Für Maria Isabel wie für viele ihrer Generation sind die Märchen fester Bestandteil ihrer Kindheit gewesen, die man sich am Feuer oder bei Familienfesten erzählte, als von TV, Smartphone & Co noch keine Rede war. Ihre Lieblingsgeschichte ist die von der Hexe Joana, die gern tanzt und denjenigen von seinem Buckel befreit, der mit ihr zusammen feiert.
Fröhlich geht es in der Märchenwelt zu. Maria Isabel Sancho neben der Figur ihres Lieblingsmärchens
Den Hof hat Maria Isabel zu einem Café ausgebaut. „Manche kommen auch nur zum Essen, aber wichtig für mich ist, dass auch diese Gäste auf der Speisekarte die Geschichte des Hauses nachlesen können, damit sie wissen, was es damit auf sich hat.“ Ist denn nun alles gut geworden, so wie sie es sich vorgestellt hat? „Besser. Viel besser! Das sehe ich an den Reaktionen der Kinder, an dem Staunen in ihren Augen.“ Maria Isabel strahlt, wenn sie erzählt, dass ArtArtà mittlerweile ein Familienprojekt geworden ist. Ihr Mann kümmert sich um das Finanzielle, der Sohn managed den Onlineauftritt und die PR. So ist aus dem geretteten Generationenhaus sogar wieder ein echtes Haus der Familie geworden – auch wenn sie nicht mehr darin wohnt.
Schluss
„Hier ist das Märchen zuende und wenn wir ihnen nicht mehr auf der Erde begegnen, werden wir sie im Himmel wiedersehen. Amen!“
(I sa Rondaia Ja Està Acabada; I Si No Mos Tornam Veure Plegats Aquí, Que Mos Hi Vegem A La Glòria. Amèn)
- Museum
Eintritt 2 Euro / 4 Euro Erwachsene,
Montag – Freitag: 10:00 bis 20:00 Uhr, Samstag: 10:00 bis 18:00 Uhr, Sonntag: geschlossen, Öffnungszeiten Winter: Mo-Sa 10-13 Uhr (oder vorher anrufen)
- Innenhof-Café
Alles hausgemachte mallorquinische Gerichte, Vorspeise ab 3 €, Pa amb oli ab 4,80 €, im Winter Café und Küche nur Dienstags zum Markttag in Artà 10-14 Uhr
- Adresse
ArtArtà, C/Antoni Blanes, 19, 07570 Artà, Mallorca
Märchen
Die Eicheln, die Kürbisse und der Heilige Petrus
Es wird gesagt, dass Jesus und der heilige Petrus durch Gottes Welt schlenderten und in einen Garten kamen, in dem es einige sehr große Kürbisse gab. Später gingen sie in einen Wald mit Eichen, und da fragte Petrus: „Meister, diese Eichen sind so stark und mächtig und haben dabei so winzige Eicheln. Und die Kürbispflanzen sind lang und dünn und haben riesige Früchte, die mehr wiegen als sie selbst – wäre es nicht besser, wenn die Eichen Kürbisse tragen würden und die Kürbispflanzen dagegen die Eicheln?“ Jesus antwortete nicht, aber als sie unter die Eichen gingen, fiel Petrus ein riesiger Kürbis auf den Kopf. Als er wieder zu sich kam, fragte Jesus ihn: „Glaubst du noch immer, dass große Früchte an Bäumen wachsen sollten?“ Petrus schüttelte beschämt den Kopf. Und Jesus sagte: „Gut. Denn merke – versuche nicht zu ändern, was perfekt ist.“
Fotos: © Marcos Gittis, Christiane Sternberg
Ersterscheinung des Textes in El Aviso 12/2018
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